

PALIMPSEST FÜR DEN REESERPLATZ
Zukünftig soll der Reeserplatz nicht allein der Aufarbeitung seiner Instrumentalisierung als Repräsentationsort eines mörderischen Regimes dienen, sondern einer vielschichtigen, lebendigen Zukunft Raum geben. Unser Vorschlag möchte auf der Grundlage von heterogenen korrespondierenden gestalterischen Komponenten einen poetischen Ort schaffen, der in eine positive Zukunft weist.
Wie bei einem Palimpsest, einem antiken Schriftstück aus Pergament, das wiederholt beschrieben, schichtweise abgetragen und erneut beschrieben wird, schrieb und schreibt sich die Geschichte auch in diesen Ort ein. Manches bleibt sichtbar, anderes wird verdeckt. Nach der Streuobstwiese hat der Platz seine
Form als Schienenschleife, als Endstation für eine Straßenbahn gefunden. Ab dem Sommer 1939, kurz vor Kriegsbeginn, gibt der Platz einer martialischen Soldatenverehrung Raum. Die Jahre 1939 bis 1945 führen uns die ungeheuren Dimensionen menschlicher Grausamkeit vor Augen.
Die künstlerischen Interventionen zum zentralen 39er Denkmal berücksichtigt unterschiedliche, gleichberechtigte Anforderungen an die Neukontextualisierung des NS-Bauwerks. Eine deutlich sichtbare und schnell erfassbare Intervention aber auch differenzierte, komplexe Sinnbeziehungen und Konterkarierungen.
Die Worte einer Künstlerin und eines Künstlers jener Zeit – beide Opfer von Faschismus und Krieg – sind das zentrale Gestaltungselement. García Lorca wurde 1936 im spanischen Bürgerkrieg ermordet; sein Grab später niemals gefunden. Aurelia Wyleżyńska1 starb im Warschauer Ghetto. Ihre Tagebücher beginnen mit dem 15. August 1939 und enden mit ihrem Tod im Jahr 1944.
Aurelia Wyleżyńskas Text wird als zartes Schriftband aus Bronzebuchstaben neben dem Weg durch den Park in den Boden eingelassen. Diese zurückhaltende Gestaltung verbindet den aktuell zweiteilig wirkenden Platz. Der Text gibt die wichtigsten Stellen ihres Tagebuchs wieder und erfüllt letztendlich den von ihr zu Lebzeiten geäußerten Wunsch nach Veröffentlichung. Das Schriftband beginnt am der Trinkhalle nahen Eingang des Parks. Chronologisch, beginnend mit der Erzählung über die unbeschwerten Ferienwochen im August vor dem Krieg, leiten die Worte durch den Park beim Kinderspielplatz vorbei. Hinter dem Denkmal sind Wyleżyńskas Schilderungen zum 1. September 1939 und die Wahrnehmung der ersten Kriegstage bis hin zur brutalen Realität im Warschauer Ghetto vor dem Denkmal zu lesen.
García Lorcas Zeilen treten skulptural mit dem Kriegsdenkmal in den Dialog. Der Text bildet eine Öffnung in einem riesigen dynamischen Blattgoldfleck. Es entsteht ein vielschichtiges Vexierbild. Das Glas zitiert eine Vitrine. Einerseits umrahmt sie den Stein, gleichzeitig widerspricht sie jedoch diesem. Das Blattgold verdeckt und gibt frei. Die Zeilen aus Lorcas Gedicht, sein Text, die Buchstaben sind Öffnungen in der Blattvergoldung. Die Worte, mit denen der spanische Lyriker versucht, den Schmerz angesichts des Todes zu fassen, geben den Blick auf die heldenhafte Darstellung der Soldaten frei. Die Grundform für die Vergoldung entsteht als ungeordneter Fleck: Mit Wucht wird der unsichtbare Haftgrund auf das Glas geschleudert, um dann das Blattgold langsam und in Handarbeit Zentimeter für Zentimeter aufzutragen.
Aurelia Wyleżyńska
Als am 1. September 1939 deutsche Truppen Polen überfielen, hatte Aurelia Wyleżyńska sich als Verfasserin mehrerer Romane, eines Parisführers und zahlreicher Beiträge für Tageszeitungen und Zeitschriften schon einen Namen gemacht. Gleichwohl waren es von allen Werken ihre Aufzeichnungen aus den Jahren 1939 –1944, von denen sie hoffte, daß sie für die Nachwelt erhalten blieben. Am 3. April 1944 notierte sie: “Das ist mein Testament … (…) Von Horaz bis Puschkin wollte jeder Schriftsteller sich ein Denkmal setzen. (…) Mein Wunsch ist es, dieses Tagebuch zu veröffentlichen. Zu Lebzeiten oder posthum.”
Das Tagebuch enthält Biographisches, Reflexionen über Kultur und Literatur, vor allem aber Notizen von Streifzügen durch Warschau, die eindrückliche, oft frappierende Bilder vom Leben in der erst belagerten, später besetzten Stadt liefern. Nicht minder aufschlussreich sind die Schilderungen aus der masowischen Provinz, vom Landsitz der Familie in Wielgolas, den Wyleżyńska während des Krieges aufsuchte, wann immer sich ihr die Möglichkeit bot. Ihr klarer, unbestechlicher Blick ermöglichte es der Verfasserin, von Propaganda und Freund-Feind-Denken unbeeinflusste Beobachtungen und Gedanken zu Papier zu bringen. Die Suche nach Informationen über die Vorgänge in Warschau brachte die Autorin mitunter in höchste Gefahr: Eines Tages wäre sie um ein Haar als vermeintliche Spionin standrechtlich erschossen worden – Rettung brachte in letzter Sekunde ein Offizier, der die Schriftstellerin und Journalistin erkannte. Doch auch solche Erlebnisse hielten Wyleżyńska nicht von ihrer Mission ab: “Ich habe “Ich habe beschlossen, die Chronistin dieser von barbarischen Horden zerstörten Stadt zu sein, und muss Dokumente sammeln, wo ich nur kann.”
Federico García Lorca
Federico García Lorca, geboren 1898, wurde im August 1936 in der Nähe von Granada – so genau weiß das niemand – von den Faschisten ohne Urteil erschossen und vergraben. Die Vorwürfe: “Sozialismus”, “Freimaurerei” und “homosexuelle Handlungen”. Der spanische Bürgerkrieg hatte gerade begonnen und war ein blutiges Vorspiel des Zweiten Weltkrieges.
JURYBEGRÜNDUNG
Die Arbeit “Palimpsest für den Reeser Platz” verbindet die Historie mit einer ökologischen Gestaltung eines Parks um einer lebendigen Zukunft Raum zu geben. Im Sinne einer Überschreibung oder dem Aufbringen einer neuen Schicht, wie bei einem Palimpsest (= eine Manuskriptseite oder -rolle, die bereits beschrieben, durch Schaben oder Waschen gereinigt und danach neu beschrieben wird), wird der Ort zivilisiert.
Die Jury lobt, dass durch behutsame Interventionen beide Platzhälften miteinander verbunden werden und der zentralen Achse des Aufmarschplatzes lebendige und fließende Formen und Vegetation entgegenstehen. Die vermeintliche “Chaotik” der Wiesenflächen und Bäume steht im Kontrast zum strengen und martialischen Denkmal.
Die Aufenthaltsqualität auf dem ehemaligen Aufmarschplatz wird gestärkt und regt zur individuellen Nutzung an. Die Idee des Anlegens einer Streuobstwiesein einem ersten Schritt und der Einbeziehung von Anwohner*innen bei der weiteren “Überschreibung” des Ortes wird von der Jury begrüßt.
Ein zartes Schriftband, mit einem Text von Aurelia Wylezynskas wird als verbindendes Element beider, durch das Denkmal getrennter Parkteile von der Jury gewürdigt. Doch diese verbindende, verspielte Gestaltung steht im Kontrast zur vorgeschlagenen Vitrine vor dem Denkmal, die mit einem eher klassischen Stilmittel aus der Düsseldorfer Protestgeschichte das Denkmal umgibt. Durch dieses Element wird der spannende Kontrast wieder aufgehoben und die Überformung des Denkmalls dominiert die Maßnahmen. Auch die Wirkung des goldenen Flecks auf der Vitrine wird Ieider durch das Mittel einer Kommentierung gemindert. Auch die Auswahl und Begründung der Texte und Autor*innen ist zu unspezifisch für die Geschichte des Ortes und überzeugt die Jury, wie schon in der ersten Phase nicht. Der Ansatz eine Litfaßsäule auf dem Gelände partizipativ zum Beispiel mit den umliegenden Schulen für die Aufklärungsarbeit zu nutzen, wird von der Jury einerseits begrüßt, fügt sich aber nicht schlüssig in das Gesamtkonzept des Entwurfs. (…)

Ausstellungsbeteilgung Höhenrausch 2021:
“Die Königinnen zogen Schwärme fort…”
Kulturquartier OÖ OK Linz
Rauminstallation im Dachgeschoß der Ursulinenkirche
Papier, Bienenwachs
Wie ein Schwarm verweben sich in Bienenwachs getauchte Papierovale zu einer kollektiven Form. Sie sind mit unzähligen Liebesgedichten aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen bedruckt. Der Text der Lyrik, die für Struber sprachlicher Ausdruck des körperlichen Begehrens nach Austausch mit anderen ist, verbirgt sich hinter der Wachsschicht und bleibt so kryptisch. Kontrastiert wird die Installation auf der akustischen Ebene mit einem Gedicht von Ingeborg Bachmann.
http://www.hoehenrausch.at/

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WORKS

Die künstlerische Arbeit von Katharina Struber umfasst Bildserien, Installationen und Kunst im öffentlichen Raum. Ihre fotografischen Tableaux widmen sich der Abbildung von Menschengruppen. Die Serie „Picture the Multitude“ zeigt den belebten urbanen Raum und „Common Practice“ setzt gemeinsame Produktionsprozesse ins Bild. 2017 hat sie im Team struber_gruber die Gedenkstätte Waldniel-Hostert in Deutschland realisiert und aktuell entsteht ein Erinnerungsort für Opfer des NS Regime auf den Friedhof Altglienicke in Berlin.
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